Mit welcher Legitimation und auf welcher Basis urteilen Kirchen über politische Sachthemen, die in Regierungen und Parlamenten zur Entscheidung stehen? Bewegen sie sich damit im Rahmen ihres öffentlichen Auftrags? Und was bedeuten diese Verlautbarungen für gläubige Christen, die auf unterschiedliche Weise auf die Entscheidungsfindung in derart umstrittenen Fragen Einfluss nehmen können oder müssen?
Diese sehr grundsätzliche Fragestellung der Rolle der großen Kirchen in der heutigen Gesellschaft war die Folie für einen spannenden Diskurs am Abend des 29. September im Besucherzentrum des Thüringer Landtags. Der Thüringer CDU-Landesvorsitzende und Fraktionsvorsitzende der CDU-Fraktion im Landtag Mike Mohring eröffnete die Debatte mit einem Statement, in dem er die Frage aufwarf, ob kirchliche Stellungnahmen zu konkreten, tagesaktuellen, politischen Handlungsfeldern nicht in der Gefahr stehen, zur Parteinahme von Kirche im politischen Meinungsstreit zu führen, und damit deren Rolle als ethisches Gewissen in unserer Gesellschaft konterkarieren. Der Redner war um ein Beispiel nicht verlegen und führte die Stellungnahme der beiden großen Kirchen zum „Gesetz zur Einstufung der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten“ an. Dieses wurde im Mai vom Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Die Bevollmächtigten der Kirchen bei Landtag und Landesregierung übergaben vor der Beratung im Bundesrat eine Stellungnahme an den Thüringer Ministerpräsidenten mit dem Ziel ein Inkrafttreten des Gesetzes zu verhindern. Dies, so Mohring, sei ein Eingriff in Politikgestaltung, der nicht nur zur Polarisierung in der Asyldebatte beitrage, sondern vom Auftrag der Kirche auch nicht gedeckt sei.
„Der christliche Glaube ist immer politisch,“ führte der Münchner Theologe und Ethik-Professor Reiner Anselm in seinem Impulsreferat aus. Die Kirchen seien in Deutschland trotz dramatisch sinkender Mitgliederzahlen immer noch gefragte Gesprächspartner der Politik. In dieser Rolle könnten sie sich aber nur behaupten, wenn sie zu politischen Fragen verbindende ethische Positionen suchten und auf einen moralisierenden Anspruch des Besserwissens verzichteten. Diese Einschätzung bestätigten in der folgenden Diskussion mit differenzierten Statements die weiteren Teilnehmer des Podiums Oberkirchenrat Christian Fuhrmann vom Landeskirchenamt der EKM, der Politikwissenschaftler und langjährige frühere Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena Klaus Dicke und der Richter am Landgericht Martin Borowsky. Moderiert wurde die Runde vom Chefredakteur der evangelischen Wochenzeitung „Glaube + Heimat“ Willi Wild.
Aus dem Publikum verteidigte der Beauftragte der Evangelischen Kirchen Oberkirchenrat Christhard Wagner das Vorgehen der Kirchen bei der Frage, ob die Maghreb-Staaten sichere Herkunftsländer seien. Schwere Menschenrechtsverletzungen in diesen Staaten müssten bei der Entscheidungsfindung in die Waagschale geworfen werden. Darauf aufmerksam zu machen, sei eine originäre Aufgabe für die Kirchen. Auch wenn diese Frage schließlich im Raum stehen blieb, waren sich Podium und Publikum einig, dass solche Debatten für das demokratische Politikverständnis wertvoll sind und weit geführt werden sollten.